Urs Jaeggi: Al_pha_be_te
Im Berliner Literaturhaus , wo sonst „klassische“ Literaturausstellungen (= Papiere in Vitrinen) zu sehen sind, hat sich Urs Jaeggi zu seinem 80. Geburtstag gewünscht, das Haus als Künstler zu bespielen, und tut das mit an die Wände gepinnten Zeichnungen und Texten, mit Fundstücken und getrockneten Bananenschalen als rätselhafte Zeichen. So wie es ihm im Juni gelungen war, die herausfordernden Räume der Schöneberger Malzfabrik in den Griff zu bekommen, schafft er es nun, mit seiner Kunst Räume zu besetzen, die in keinem größeren Kontrast zu der stillgelegten Fabrik stehen könnten: das gediegene Ambiente der Gründerzeitvilla. In der Ausstellung mit dem Titel Al_pha_be_te oder Wo bin ich, wenn es mich gibt? erweist sich einmal mehr die große Offenheit und Anschlußfähigkeit dieser „arte povera“.
Das Rahmenprogramm spiegelt die Vielseitigkeit des Grenzgängers Jaeggi und umfaßt Gespräche mit dem Religionswissenschaftler Klaus Heinrich ebenso wie mit dem Kunsthistoriker Beat Wyss. Heute Abend bittet Urs Jaeggi zwei Autorenkollegen ins Literaturhaus, und zwar Ralf B. Korte und mich und damit auch die Herausgeber von zwei Literaturzeitschriften, perspektive und IDIOME. Als Jaeggi in den neunziger Jahren aus der Soziologie in die Kunst desertierte und auch damit aufhörte, Romane zu schreiben, mit denen er auf dem Literaturmarkt réussieren konnte, waren die Grazer „hefte für zeitgenössische literatur“ einer der wenigen Orte, an denen er in dieser neuen Phase seines literarischen Schreibens, in der er neue hybride Formen erprobte, auf Interesse stieß. Als ich selbst für kurze Zeit der Redaktion der perspektive angehörte, hatte ich das Vergnügen, im September 2005 eine Veranstaltung im Literaturhaus Graz zu moderieren, an der Jaeggi teilnahm. Er sagte damals: „Das Experimentieren erhält die Produktivität. Das ist meine Erfahrung. Ich hätte früher nie gedacht, daß ich so Sachen schreiben würde, wie ich sie euch abgeliefert habe.“ Und als ich dann später die IDIOME ins Leben rief, war klar, daß ich für die Zeitschrift auch Arbeiten von Urs Jaeggi haben wollte.