Am Ende der Fiktionen

Als das Erzählen noch geholfen hat – wann war das eigentlich? Fest steht, daß die Buchbranche zur Vermarktung gehobener Erzählware auf Kritiker angewiesen ist, welche die Behauptung – die freilich durch permanente Wiederholung nicht richtiger wird – aufstellen, es handele sich um ernstzunehmende künstlerische Beiträge auf der Höhe der Zeit. Und auch für die Literaturwissenschaft scheint die Heimeligkeit vorhersehbarer narrativer Muster unwiderstehlich zu sein. Dort beschäftigt man sich heute lieber mit Spielfilmen als, sagen wir, mit Paul Wühr. In einem an verschiedenen irischen Universitäten gehaltenen Vortrag, dem er den herausfordernden Titel „Das Ende der Fiktionen“ gab, sagte Wolfgang Hildesheimer schon 1975: „Die Zeiten der ‚großen Romanciers‘ sind vorbei. Unsere Gegenwart wird keinen Schriftsteller hervorbringen oder erhalten, der sich inmitten von anwachsendem und unvorhersehbarem Chaos niederläßt, um ein zeitloses Konzept zu verwirklichen. Für den Schriftsteller heute ist es weniger eine bewußte Entscheidung als eine Herausforderung, Stellung zu beziehen. Nur eben bezweifle ich, daß er es überhaupt in seiner Funktion als Mann der Sprache kann. Er kann es, indem er Aktion ergreift oder indem er schweigt.“ Hildesheimer sprach weiter davon, „wachsenden Unmut, wenn nicht gar tiefe Langeweile“ zu empfinden, wenn er mit einer erfundenen Geschichte konfrontiert werde, die vortäusche, „eine Parabel für Wahres und Wirkliches zu sein“. Für ihn war es nicht zuletzt die Herausforderung durch die modernen Naturwissenschaften, die ihn an der zeitgenössischen Relevanz erzählender Prosa zweifeln ließ – Erwägungen, die einem heutigen Feuilletonisten vermutlich zu „verkopft“ vorkämen und ihn darauf verweisen ließen, daß es ja Romane gebe, in denen Genetiker aufträten.

 

Nun gibt es aber immerhin einen Schriftsteller, der es vermag, mit literarischen Fiktionen reflektiert und komplex auf die heutige Weltlage zu reagieren: Alexander Kluge – und zwar durch die Multiplikation von „Plots“ in Büchern wie Chronik der Gefühle (2000), Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006) oder Das fünfte Buch (2012). Während ein einziges Personaltableau und eine einzige Handlung in einem Buch simplifizierend und verfälschend wirken müssen, beleuchten 400 Geschichten sich auf vielfältige Weise gegenseitig und ergeben eine Konstellation, die insgesamt dazu geeignet ist, ein differenziertes Nachdenken über gesellschaftliche Zustände zu befördern. Bezeichnend, daß Fernseh-Literaturmann Denis Scheck Kluge neulich in einem Interview fragte, warum er sich der Romanform „verweigere“, wo man doch jede einzelne Geschichte zu einem Roman „ausspinnen“ könnte – eine für Scheck offenbar kaum zu fassende Verschwendung, in ein einziges Buch eine Fülle an Ideen zu packen, mit der eine Lewitscharoff oder ein Kehlmann ihre Karrieren zwanzigfach bestreiten könnten …