Urs Jaeggi: Kunst ist überall

In der aktuellen Ausgabe der IDIOME fällt auf, daß es ausgerechnet zwei der ältesten Autoren sind, die in ihren Texten die Gattungsgrenzen souverän hinter sich lassen: Chris Bezzel und Urs Jaeggi. Die Jüngeren scheinen mit den Schubladen (wieder) besser zurechtzukommen. Es wäre so unangemessen wie sinnlos, Jaeggis Text „alles“ als eine Reihe von Gedichten oder als einen Prosatext fassen zu wollen. Mehr noch: Durch die Verwendung verschiedener Schriftgrößen, die Weise, wie Jaeggi teilweise einzelne Wörter isoliert und auf dem Papier verteilt, nähert sich sein Text der visuellen Poesie. Dazu hätten außerdem noch Graphiken treten können, die zwischen die einzelnen Textabschnitte placiert worden wären, auf deren Abdruck aber verzichtet werden mußte. Urs Jaeggis Kunst erkennt keine Grenzen an.

Was ich an Jaeggi besonders bewundere, ist seine mit den Jahren immer weiter zunehmende Experimentierlust. Zu beobachten ist doch meist der umgekehrte Weg, daß Autoren (von Peter Handke bis Michael Lentz) nach einer mehr oder weniger langen und konsequenten experimentellen Phase auf die Produktion von Marktkompatiblerem und Gediegenerem einschwenken. Ganz anders Urs Jaeggi: Mit Romanen wie Brandeis oder Grundrisse spielte er im westdeutschen Literaturbetrieb der siebziger und achtziger Jahre eine bedeutende Rolle – als Soziologieprofessor, dem sein Fach schon damals zu eng erschien. Nach seiner vorgezogenen Emeritierung begann er sich zur Verblüffung vieler mit ganzer Kraft der bildenden Kunst zuzuwenden. Aber auch der literarische Autor Jaeggi kehrte nach einigen Jahren wieder zurück: mit essayistischen Texten wie den in dem Band Kunst gesammelten und mit hybriden zwischen Lyrik und Prosa changierenden, die u.a. in der Grazer Literaturzeitschrift perspektive abgedruckt wurden und mit denen die Leser seiner Romane natürlich nichts anfangen konnten.

Mit einer Ausstellung anläßlich seines 80. Geburtstags ist Jaeggi jetzt ein gewaltiges Wagnis eingegangen: Er zeigt eine Art Retrospektive seiner letzten 20 Schaffensjahre als bildender Künstler in einem Teil der alten Malzfabrik in Berlin-Schöneberg, in dem sich seit der Stillegung nichts geändert zu haben scheint. Die Aura der Industriearchitektur muß auf jeden Künstler einschüchternd wirken, die meisten scheitern an solchen Orten. Jaeggi hingegen schafft es auf verblüffende Weise mit diesem Ort umzugehen und seine Arbeiten so zwischen den rostigen Rohren zu placieren, daß sich das Vorgefundene und das Hinzugefügte nicht bloß ergänzen, sondern eine Einheit bilden, ja stellenweise sogar zur Ununterscheidbarkeit verschmelzen, wenn er Fundstücke aus der Fabrik sozusagen als Kunstwerke adoptiert. Möglich ist das wahrscheinlich nur deshalb, weil seine Arbeiten so offen und unprätentiös sind – nicht saubere weiße Wände erheischend, sondern angelegt für eine Interaktionen mit den jeweiligen Kontexten. In Schöneberg geht das auf eine beglückende Weise auf. Daß die Retrospektive zum runden Geburtstag an einem Off-Ort und keinem renommierten Haus stattfindet, zeigt nur einmal mehr, daß Urs Jaeggi den Kunst- wie den Literaturbetrieb nach wie vor überfordert.