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IDIOME – Neue Prosa im Netz | Florian Neuner

Tag: Berlin

IDIOME in Berlin

Am Donnerstag, den 27. September um 20.30 Uhr wird die aktuelle Ausgabe der IDIOME in der Kulturspelunke Rumbalotte Continua, Metzer Str. 9, 10405 Berlin, vorgestellt.

Mit CraussFlorian NeunerUlrich Schlotmann und Stefan Schweiger.

2007 von Florian Neuner und Lisa Spalt ins Leben gerufen, ist die Zeitschrift IDIOME von Anfang an zwischen Wien und Berlin entstanden und widmet sich seit der ersten Ausgabe avancierter Prosa aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, wobei das Spektrum von historischen Texten der Neoavantgarde in Erst- und Wiederveröffentlichungen (Chris Bezzel, Dieter Roth) bis zur jüngsten Literatur (Ann Cotten, Robert Prosser) reicht. Bereits im Editorial der 2. Ausgabe konnte Florian Neuner, der die IDIOME heute gemeinsam mit Ralph Klever herausgibt, resümieren: „Die Resonanz, welche das Vorhaben, ‚Hefte für Neue Prosa‘ herauszubringen, bereits in seinem Planungsstadium auslöste, ließ nur einen Schluß zu: Darauf hatten einige gewartet. Und nicht nur die Autorinnen und Autoren, die sich noch immer nicht davon haben abbringen lassen, an einer Prosa jenseits von Roman und short story zu schreiben, goutierten das von mir gemeinsam mit Lisa Spalt auf den Weg gebrachte Projekt. Die in den IDIOMEN abgedruckte Sprachkunst hat auch ein Publikum erreicht.“

Crauss Geb. 1971, lebt in Siegen, zuletzt: Lakritzvergiftung (Verlagshaus J. Frank, Berlin, 2011)

Florian Neuner Geb. 1972, lebt in Berlin, zuletzt: Satzteillager (Klever, Wien, 2011)

Ulrich Schlotmann Geb. 1962, lebt in Berlin, zuletzt: Die Freuden der Jagd (Urs Engeler, Basel, 2009)

Stefan Schweiger Geb. 1967, lebt in Berlin, zuletzt: Ruptus. Marktgeschehen (Ritter, Klagenfurt, 2012)

Eintritt frei!

Der sogenannte Nebenkanon

D. Holland-Moritz erfuhr seine ästhetische Sozialisation im Westberliner underground der achtziger Jahre. Man tut ihm gewiß nicht unrecht und zieht nicht voreilig eine Schublade auf, wenn man das betont, bilden die Szene-Erfahrung auf der Insel Westberlin und seine popkulturelle Sozialisation im Rheinland der siebziger Jahre doch vom Autor auch in seinen Gegenwärtiges kommentierenden Einlassungen ständig präsent gehaltene Referenzpunkte. Nach Fan Base Pusher legt Holland-Moritz mit Promoter. Ein Magazin nun einen weiteren Band vor, in dem er – mal eher tagebuchartig, mal zu Miniatur-Essays sich aufschwingend, mal Materialien als nackte Zitate für sich sprechen lassend – über Ereignisse vornehmlich der Berliner Kulturszene raisonniert, und zwar in erster Linie dort, wo Veteranen jener Achtziger-Jahre-Szene hervortreten, arriviert inzwischen oder kaputt oder beides: in der Galerie der Laura Mars Grp., im „Goldenen Hahn“ oder in der Galerie Nord; Holland-Moritz ist ihr treuester und geduldigster Chronist. Immer wieder kommt er auch auf die von ihm mitorganisierten Veranstaltungen des Vereins perspektive literatur berlin e.v. zu sprechen. Der Tatsache, daß ich der Redaktion der gleichnamigen Grazer Zeitschrift, die Holland-Moritz‘ wichtigstes Medium darstellt, drei Jahre lang angehörte, erklärt wohl, warum er sich – sozusagen am Rande des skizzierten Feldes – auch hin und wieder meinen Aktivitäten zuwendet. Zur ersten Berliner IDIOME-Präsentation im Februar 2008 bemerkt Holland-Moritz:

In die Waagschale des Nebenkanons geworfen als ein Fang, der bereitwillig ins Netz geschwommen kam und an den Haken genommen von Jörg Drews in der Literaturwerkstatt der Kulturbrauerei: Idiome – ein Heft pro Jahr zum Stand neuer Prosa, hrsg. von Florian Neuner und Lisa Spalt in Oberösterreich, eine Textsammlung gegen den Mainstream aus den anderen avancierten Foren: ,,Da brauchen wir Foren“, bemerkt auch Drews und beklagt den Standard marktgerechter Prosa: Die könne ja zum Beispiel die komplexen wirtschaftlichen Vorgänge um sie herum gar nicht mehr bewältigen, die psychologisiere ja auch nicht mehr, und ob da nicht mehr nicht-narrative Konzepte gefragt seien. Nur, wie betreibt man Menschenfischerei abseits der traditionellen Fanggründe des Romans (auf ohnehin restringierenden Walwanderwegen) und seiner künstlichen, antibiotikaverseuchten Lachsfarmen?

Butter bei die Fisch, folgende Aufrufe in der kleinen Auktionshalle an der Knaackstraße:

Florian Neuners Prosa-Stadtgänge sind Ausdrücke einer Stagnation, ein zuweilen aufmüpfig vor sich hin brummelnder Ruhrgebiets-Stream of consciousness, zwischen Reklamen, Bistros, Kneipen und Bordellen auflaufend und auch deren Kundschaft nicht ausklammernd;

Ulrich Schlotmanns manieristische Entwendungen aus dem idiomatischen Wörterbuch deutscher Sprachkonvention haben Humor, provozieren mitunter in ihrer Vulgarität, erreichen ihr Publikum, aber leider nur in der Performance;

Stefan Schweiger, der mit seinen Splittern den philologischen Mulch der Geistesindustrie zu neuem organischem Rohstoff recycelt – leider steigt sein Publikum aus, das ist ja immer so eine Sache;

Lisa Spalts Entwicklung von Krimi-Elementen in einem Meta-Ansatz, der sich interlinear hineinschiebt in brachliegende Räume der Rezeption, vorgemacht von diversen Autoren in der New Wave der Science Fiction seinerzeit.

Man könnte diese Texte wie >treibende Inseln< träumen, die an Sandbänken vorbei einen Fluß hinab ins Schwemmland driften. Vielleicht, um sich mit einem Flamingo-Reservat zu verflechten oder doch nur, um in die Binsen zu gehen?

Mit dem sogenannten Nebenkanon ist es so eine Sache – eine Debatte, die mir gut aus perspektive-Zeiten erinnerlich ist: Nebenkanon, das sind oder dorthin streben die, die vermeintlich ein klitzekleines Stück weiter arriviert sind als man selbst, für Außenstehende in aller Regel gar nicht wahrnehmbar. So zu argumentieren setzt voraus, die „feinen Unterschiede“ sehr stark und zudem plausibel zu machen, warum das Publizieren in der einen staatlich subventionierten Literaturzeitschrift eine größere anti-kanonische credibility für sich beanspruchen darf als in einer anderen, warum die in der literarischen Reihe des Ritter Verlags erscheinenden Texte keinen „Nebenkanon“ bilden wollen, sehr wohl aber die von Urs Engeler oder wem auch immer herausgegebenen. Vor der Folie des von Holland-Moritz so gerne beschworenen undergrounds freilich würde derlei Rabulistik ohnehin nicht verfangen und als durchschaubares Ablenkungsmanöver abgelehnt werden müssen wie die gesamte am Rand des Hochkultur-Literaturbetriebs ausgehaltene Kleinverlags- und Zeitschriften-Szene. Dann gälte es, sich andere, tatsächlich unabhängige Wege des Publizierens zu bahnen, ernsthaft an so etwas wie Gegenöffentlichkeit zu arbeiten …

Aber Holland-Moritz geht noch weiter und suggeriert mit dem Bild von der Auktionshalle, es sei damals nicht bloß um das Réussieren im „Nebenkanon“ gegangen, sondern gar um einen Vorstoß dorthin, wo die Fleischtöpfe tatsächlich (oder vermeintlich) stehen. Denn mit einem Platz als Quoten-Experimenteller am Katzentisch des Betriebs hat sich ja auch noch niemand eine goldene Nase verdient. Nicht ohne Häme verweist Holland-Moritz darauf, daß dieses von ihm unterstellte Ziel doch unerreichbar bleiben muß und beruft sich dabei auf das Publikum, das an jenem Abend übrigens zahlreich erschienen war und mit dem die IDIOME-Herausgeber durchaus argumentieren könnten, wenn sie der Meinung wären, daß der Erfolg irgendjemandem recht gibt – und suggeriert, daß es gegen Stefan Schweigers hochreflexive Prosa spricht, wenn diese beim ein- bzw. erstmaligen Hören möglicherweise nicht ohne weiteres aufgefaßt werden kann und gegen Ulrich Schlotmanns Texte, daß dieser sie publikumswirksam darzubieten versteht (was ihn nebenbei mit Holland-Moritz verbindet).

Ich weiß bis heute nicht, warum Lisa Spalt und ich mit den IDIOMEN damals in die literaturWERKstatt eingeladen wurden, die sich in letzter Zeit kaum noch für Sprachkunst außerhalb des stets wohlbestellten Lyrik-Schrebergartens interessiert. Von diesem Ereignis bleibt retrospektiv in erster Linie das Glück, Jörg Drews ein Jahr vor seinem Tod begegnet zu sein und die Dankbarkeit, daß er seinen Namen hergab für ein junges Zeitschriften-Projekt, das er unterstützenswert fand. Mit dem „Nebenkanon“, das darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, gab ein Jörg Drews sich allerdings gar nicht erst ab: Er stritt für die Anerkennung von Hartmut Geerken, Dieter Roth oder Paul Wühr als den relevanten Figuren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur – nicht neben, sondern anstelle von Grass, Walser & Co. Davon ist seine Rezensionssammlung Luftgeister und Erdenschwere ein schönes Zeugnis, die man als eine alternative Literaturgeschichte der Nachkriegszeit lesen kann.

Das schönste Buch des Jahres

Im Dezember letzten Jahres hatte ich das große Glück, noch eine Woche vor seinem Tod von Peter O. Chotjewitz empfangen zu werden. Das Gespräch, das ich mit ihm an seinem Totenbett führen durfte, sollte sein letztes Interview werden. Auf meine abschließende Frage, an was er denn in den vergangenen Monaten gearbeitet hätte, erwähnte er eine Serie von Gedichten, die zum Teil in dem Band 49 VIPs enthalten sind, und ergänzte: »Ich habe eine Éducation sentimentale geschrieben, eine Darstellung, wie Gefühle – meine Gefühle – im Laufe der Jahrzehnte mich verändert haben. Wie sie entstanden sind, worauf sie gerichtet waren und welchen impact sie dann gehabt haben. Es ist auch ein Buch ein wenig über das Kiffen und das Saufen, weil logischerweise da auch ein großer Teil der Gefühle entstanden ist und auch wiederum reinvestiert worden ist.«

Ganz korrekt ist das nicht. Zwar hatte sich Chotjewitz gleich nach seiner Krebs-Diagnose vorgenommen, eine Autobiographie zu schreiben, das Projekt dann aber wieder fallengelassen. Drei Monate vor seinem Tod allerdings kam er darauf wieder zurück und erzählte sein Leben dem Frankfurter Journalisten und Autor Jürgen Roth, dessen Transkript er noch redigieren konnte. Der unnötig reißerische Titel Mit Jünger ein‘ Joint aufm Sofa, auf dem schon Goebbels saß sollte einen auf gar keinen Fall abschrecken! Das Sofa stand oder steht in der Villa Massimo in Rom und spielt auf eine der Episoden an, die zum anekdotischen Kolorit der Chotjewitz’schen Erinnerungen zählen. Neben Rom sind Berlin, Nordhessen, Köln und Stuttgart Dreh- und Angelpunkte dieser Biographie, die nicht zuletzt deshalb in dieser Ausführlichkeit erzählenswert ist, weil Chotjewitz mit seiner Literatur immer auf die Zeitläufte, aber auch auf seine jeweilige private Lebenssituation reagierte: auf das Leben im Westberlin der sechziger Jahre mit der Insel oder mit Mein Freund Klaus auf den von Verdummung und Verdrängung geprägten Diskurs über die Rote Armee Fraktion – Zusammenhänge, die dem Leser der Fast letzten Erzählungen, dieser großen Collage als intellektuelle Autobiographie, vertraut sind. Chotjewitz sagt: »Ich habe einen großen Teil meines Lebens so erlebt, daß ich mir schon während des Erlebnisses vorgestellt habe: Darüber werde ich vielleicht mal was schreiben, das kann man vielleicht mal brauchen.« Und er fügt hinzu: »Ihr werdet, falls ihr mal meine Bücher lesen solltet, feststellen, daß sich vieles, was ich geschrieben habe, aus meiner Biographie ableitet.«

Jürgen Roth ist es gelungen, einen gut lesbaren Text herzustellen, der mit seinen mäandernden Abschweifungen die gesprochene Sprache gleichwohl nicht verleugnet. Dahinter steht ein Schriftsteller, der über Jahrzehnte eine so kompromißlose wie unkorrumpierbare Haltung bewiesen hat, mit der er im deutschen Literaturbetrieb fast ganz allein auf weiter Flur steht – der in den sechziger Jahren als »spätbürgerlicher Schriftsteller« beschimpft wurde und dann später »zu links für den Betrieb« war. Beirren hat er sich davon nie lassen, lange Zeit finanziell abgesichert durch die sprudelnden Tantiemen seiner vielgespielten Dario-Fo-Übersetzungen. So blickt Chotjewitz entspannt zurück, ohne an der einen oder anderen Stelle mit deutlichen Worten für den jeweils hegemonialen Diskurs über Literatur zu sparen, etwa anläßlich seiner Begegnung mit der Gruppe 47: »Da saßen jetzt diese Bettnässer, die nichts so sehr haßten wie das literarische, politische Experiment.« Nicht umsonst erscheinen hier literarisches und politisches Experiment in eins gesetzt. Wie Peter O. Chotjewitz beides zu unterschiedlichen Zeiten mal zusammenzubringen vermochte und mal nicht, mal als untrennbar und mal als antagonistisch erlebte, bleibt das Herausfordernde dieses Werks.

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Vermuteter Treffpunkt des Comités für Neue Prosa in Berlin-Moabit

Urs Jaeggi: Kunst ist überall

In der aktuellen Ausgabe der IDIOME fällt auf, daß es ausgerechnet zwei der ältesten Autoren sind, die in ihren Texten die Gattungsgrenzen souverän hinter sich lassen: Chris Bezzel und Urs Jaeggi. Die Jüngeren scheinen mit den Schubladen (wieder) besser zurechtzukommen. Es wäre so unangemessen wie sinnlos, Jaeggis Text „alles“ als eine Reihe von Gedichten oder als einen Prosatext fassen zu wollen. Mehr noch: Durch die Verwendung verschiedener Schriftgrößen, die Weise, wie Jaeggi teilweise einzelne Wörter isoliert und auf dem Papier verteilt, nähert sich sein Text der visuellen Poesie. Dazu hätten außerdem noch Graphiken treten können, die zwischen die einzelnen Textabschnitte placiert worden wären, auf deren Abdruck aber verzichtet werden mußte. Urs Jaeggis Kunst erkennt keine Grenzen an.

Was ich an Jaeggi besonders bewundere, ist seine mit den Jahren immer weiter zunehmende Experimentierlust. Zu beobachten ist doch meist der umgekehrte Weg, daß Autoren (von Peter Handke bis Michael Lentz) nach einer mehr oder weniger langen und konsequenten experimentellen Phase auf die Produktion von Marktkompatiblerem und Gediegenerem einschwenken. Ganz anders Urs Jaeggi: Mit Romanen wie Brandeis oder Grundrisse spielte er im westdeutschen Literaturbetrieb der siebziger und achtziger Jahre eine bedeutende Rolle – als Soziologieprofessor, dem sein Fach schon damals zu eng erschien. Nach seiner vorgezogenen Emeritierung begann er sich zur Verblüffung vieler mit ganzer Kraft der bildenden Kunst zuzuwenden. Aber auch der literarische Autor Jaeggi kehrte nach einigen Jahren wieder zurück: mit essayistischen Texten wie den in dem Band Kunst gesammelten und mit hybriden zwischen Lyrik und Prosa changierenden, die u.a. in der Grazer Literaturzeitschrift perspektive abgedruckt wurden und mit denen die Leser seiner Romane natürlich nichts anfangen konnten.

Mit einer Ausstellung anläßlich seines 80. Geburtstags ist Jaeggi jetzt ein gewaltiges Wagnis eingegangen: Er zeigt eine Art Retrospektive seiner letzten 20 Schaffensjahre als bildender Künstler in einem Teil der alten Malzfabrik in Berlin-Schöneberg, in dem sich seit der Stillegung nichts geändert zu haben scheint. Die Aura der Industriearchitektur muß auf jeden Künstler einschüchternd wirken, die meisten scheitern an solchen Orten. Jaeggi hingegen schafft es auf verblüffende Weise mit diesem Ort umzugehen und seine Arbeiten so zwischen den rostigen Rohren zu placieren, daß sich das Vorgefundene und das Hinzugefügte nicht bloß ergänzen, sondern eine Einheit bilden, ja stellenweise sogar zur Ununterscheidbarkeit verschmelzen, wenn er Fundstücke aus der Fabrik sozusagen als Kunstwerke adoptiert. Möglich ist das wahrscheinlich nur deshalb, weil seine Arbeiten so offen und unprätentiös sind – nicht saubere weiße Wände erheischend, sondern angelegt für eine Interaktionen mit den jeweiligen Kontexten. In Schöneberg geht das auf eine beglückende Weise auf. Daß die Retrospektive zum runden Geburtstag an einem Off-Ort und keinem renommierten Haus stattfindet, zeigt nur einmal mehr, daß Urs Jaeggi den Kunst- wie den Literaturbetrieb nach wie vor überfordert.